Ein Wiedersehen mit Lorenzo
“Eccolo il caffè, Signorina”. Mit einer gekonnten Bewegung setzte der Kellner die Tasse sanft auf dem kleinen runden Tisch vor ihr ab und riss sie aus ihren Gedanken. “Oh. Ja. Danke, Silvio” erwiderte die junge Frau und griff nach ihrer Handtasche. Als sie den Kopf drehte, fielen die schwarzen Locken über ihre Schulter. Mit einer abwesenden Geste strich sie die Haare aus dem Gesicht. “Hier, stimmt so. Danke”. Silvio bemerkte die feinen roten Ränder um ihre Augen, obwohl sie ihn kaum ansah. Dunkelblaue Augen, wie die Fernlichtleuchte am Armaturenbrett seines Wagens. Dazu lange dunkle Wimpern. Wie die Haare nachtschwarz und glänzend. Der Blick allerdings war fahrig und unkonzentriert. Wie er in den letzten Tagen gelernt hatte, wünschte die junge Frau keine Unterhaltung und so drehte er sich mit einem Nicken um und ging zur Bar zurück.
Das hatte sie nun davon, dachte sie. Sogar die italienischen Kellner versuchten nicht einmal mehr zu flirten. Kein Wunder. Dunja Wilmers zuckte leicht mit den Schultern. Sie nahm die Tasse und trank einen Schluck. Langgliedrige Finger, ohne jeden Schmuck. Kurze, aber gepflegte Fingernägel, einfach klar lackiert. Als sie die Tasse zum Mund führte, achtete sie darauf, dass kein Lippenstift an der Tasse zurück blieb. Mit einer langsamen Bewegung erhob sich Dunja und stellte gleichzeitig die Tasse auf den Tisch zurück. Dann streckte sie den Oberkörper und trat an die Brüstung des Cafés im Einkaufszentrum. Ihr schmaler weißer Sommerrock und die weiße Bluse bildeten einen scharfen Kontrast zu den schwarzen Cowboystiefeln, dem breiten schwarzen Ledergürtel und den schwarzen Haaren. Sie stand reglos da und stützte sich mit gestreckten Armen auf das Geländer. Zehn Meter unterhalb der Empore des Cafes tobte in der Geschäftsetage die Kaufwut eines Samstagnachmittags. Belanglose Leute, die belanglose Dinge kauften, anstatt sich um ihre Mitmenschen zu kümmern. Langsam schloß Dunja die Augen. Sie versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Schließlich - “Signorina? Entschuldigung?” unterbrach eine Stimme ihre Gedanken.
“Oh Silvio. Bitte, ich habe wirklich keine Lust …“ fuhr sie herum und unterbrach sich mitten im Satz. Vor ihr stand nicht Silvio, der Kellner. Sondern ein Mann, vielleicht Mitte Vierzig. Heller Sommeranzug und leichte ockerfarbene Lederslipper. Einige graue Strähnen im Haar. Gesunde Bräune und ein fragender, freundlicher Blick. Der Mann kam ihr irgendwie bekannt vor. Gleichzeitig war irgendetwas an seinem Auftreten beunruhigend. “Entschuldigen Sie. Ich dachte der Kellner …” begann Dunja.
“Nein, nein, mi dispiace, ich hätte Sie nicht einfach aus Ihren Gedanken reißen dürfen”, entgegnete der Fremde. Er trat neben Dunja an die Brüstung, hielt aber eine höfliche Distanz ein. “Das klingt jetzt sicher wie niveaulose Anmache, aber ich bin mir sicher, dass wir uns kennen”, setzte er an. Dunja nickte leicht. “Ja, Sie kommen mir bekannt vor. Arbeiten Sie hier in der Stadt?”, wollte sie wissen. Sein Akzent kam ihr seltsam vertraut vor. Dunja blätterte in Gedanken in ihrem Personengedächtnis immer weiter zurück. Der Mann kniff die Augen leicht zusammen und sah Sie direkt an. “Ich erinnere mich genau an diese Augen, diese Farbe. Wie das Meer in den Buchten vor Sardinien”.
Die Erinnerung kam wie ein elektrischer Schlag. Innerhalb einer Zehntelsekunde war sie wieder 14. Italien. Arezzo, das Liceo Francesco Redi. Der Sommer ‘96, sie als Austauschschülerin in der Toskana. Sie hauchte den Namen mehr, als das sie ihn aussprach: “Lorenzo? Lorenzo Montefeltri? Aus Arezzo?” Sie schwankte. Er stützte sich ebenfalls auf das Geländer, blickte auf den Trubel unter ihnen und spannte den Körper “Das Mädchen mit den blauen Augen. Gli occhi del mare.” sagte er der nun gar nicht mehr Fremde leise, dann lächelte er und drehte sich zu Ihr. “Hallo Dunja. Wie geht es Dir?” Sie erhob die Hand wie zum Schlag, zuckte dann zurück, hob wieder die Hand und ließ sie wieder sinken. Dann bedeckte sie mit beiden Händen das Gesicht. “Du … Du… Was willst Du hier, jetzt, auf einmal?” Sie blickte ihn an. “Stronzo! Hau ab, wieso tauchst Du jetzt hier auf, wo ich kurz davor bin …” sie schwieg, schwer atmend.
Lorenzo ließ den Ausbruch reglos über sich ergehen. “Weil Du weisst, dass ich dann auftauche, wenn Du in Schwierigkeiten bist. Ich habe es versprochen, damals. Weisst Du nicht mehr”? Ja, er hatte es versprochen. Damals, als Sie auf der Intensivstation wieder aufgewacht war und er an ihrem Bett saß, als wäre nie etwas passiert. Sechs Meter. Sie war einfach einen Schritt nach vorne gegangen, nachdem sie eine halbe Stunde da gestanden hatte, auf dem Gebäude des Gymnasiums in Arezzo. Amore - pah! Was wusste sie schon, damals mit 14? Aber Lorenzo, der unten stand und hochblickte, in den Sekunden bevor Sie einfach ins Leere trat, der war da gewesen. Dieser Irre hatte seine Arme ausgebreitet und Sie aufgefangen. Wieso hatte er damals nichts außer Schrammen und blauen Flecken? Sie wäre wie eine Schaufensterpuppe zerbrochen ohne ihn. La tedesca pazza - die verrückte Deutsche, so hieß sie für den Rest des Jahres in Italien. Sie hatte lange Gespräche geführt mit Lorenzo, auf der Intensivstation. “Ich werde Dich immer auffangen, wenn ich muss”, hatte er gesagt und gelächelt . “Weil Du ohne Flügel nicht fliegen kannst.” Und jetzt, jetzt stand er vor Ihr, beinahe fünfzehn Jahre später, als Sie gerade dabei war, über die Brüstung …
“Ja, Du hast es versprochen”, sagte Dunja leise und hob den Blick in die Sonne, die immer stärker durch das Glasdach schien. “Diesmal musstest Du mich nicht einmal auffangen”. Sie lächelte schüchtern und fühlte sich wieder wie ein Teenager. “Wo kommst Du her? Du warst nach den ersten Tagen weg, unauffindbar. Von wegen, «Ich bin ein neuer Lehrer hier», es gab Dich gar nicht am Liceo”. Sie sah Lorenzo fragend an. “Was hast Du eigentlich die ganzen Jahre gemacht?"
Er machte eine beruhigende Handbewegung und rückte näher zu ihr. “Ich bin eine Art Coach, ein Begleiter. Ich ermögliche Optionen”, entgegnete Lorenzo. “Ich habe erfahren, dass Du Probleme hast und ich habe Dir ja versprochen, mit Dir in Verbindung zu bleiben.” Er grinste, “Solltest Du aus Deinen Beruf kennen. Wie social networking und Skype, nur persönlicher”.
Dunja nahm seine Hand. “Und mich nannten sie die Verrückte. Du bist der Verrückte. Jahrelang höre ich nichts von Dir und jetzt tauchst Du auf, wie immer im letzten Moment.” Sie blickte nach unten ins Erdgeschoß und betrachtete das Muster des Fussbodens. “Willst Du runter? Mich wieder auffangen? Ich habe zugenommen.” Sie nahm seine Hand. “Oh Lorenzo, ich weiß nicht, was ich tun soll. Aber in diesem Moment würde ich gerne mit Dir reden und einen Rat von Dir bekommen.” Sie blinzelte in die grelle Sonne. “Hast Du einen Moment Zeit?”
Lorenzo hatte Ihre Hand genommen und drückte Sie ganz leicht. “Einen Moment? Un attimo solo? Wir haben Äonen, Signorina. Lass uns an einen anderen Ort gehen, dann reden wir und Du hast alle Zeit der Welt.” Sie blickten beide über die Brüstung. “Was die da unten alle so hektisch herum rennen …”, wunderte sich Dunja. “Komm, gehen wir in die Sonne, nach draussen, Lorenzo. Jetzt wo Du da bist, ist alles auf einmal nicht so schlimm.” Lorenzo blickte sie an und hielt immer noch ihre Hand. “Ich hab es Dir doch versprochen, dass ich Dich auffange, wenn ich muss”, sagte er mit sanfter Stimme und zog sie mit sich. Dunja folgte ihm. Vielleicht war es die einfachste Lösung, einfach wieder auf Lorenzo zu hören …
“15 Uhr 28, Exitus.”, sagte der Notarzt zu seinem Rettungsassistenten. Er seufzte und blickte auf die junge Frau auf dem Marmorboden vor ihm. Aus ihren Ohren lief ein dünner Blutfaden, hellrot, wie gemalt. Die tiefblauen Augen standen offen und blickten starr nach oben. Lediglich die unnatürliche Kopfhaltung und die verdrehten Gliedmaßen gaben dem Körper etwas Künstliches. “Das war eine entschiedene Sache, als wir ankamen”, entgegnete der Rettungssanitäter. Um sie herum wartete die Menge der Gaffer auf der Einkaufsetage hinter der Absperrung.
Er blickte nach oben in die Sonne in Richtung Bistro-Empore. “Ich schätze mal, das sind locker zehn, zwölf Meter. Dafür sieht sie noch gut aus.” Der Notarzt blickte wortlos auf die Leiche und dachte nach. “Was ich nicht verstehe”, begann er schließlich, " ist dieser entspannte Gesichtsausdruck. Ich kenne das von alten Leuten, die friedlich einschlafen, im Beisein geliebter Menschen, aber nicht von einer Dreissigjährigen nach einem Suizid”. Der Rettungssanitäter blickte den Arzt an. “Vor allem” - er öffnete die rechte Hand der toten Dunja Wilmers - “woher hat sie diese weiße Feder? Hier kommen doch gar keine Tauben rein”. Dann stand er auf und machte den Weg für die Polizei frei.