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Zollkiesel statt Meilensteine
Digitaler Zettelkasten eines chronisch Neugierigen

Sind Hausarbeiten in KI-Zeiten tot?
30.05.2025
Anzahl Worte: 1113

Sind Hausarbeiten in LLM-Zeiten tot?

Machen wir die Ausgangsbasis provokant: es gibt “KI”, die geht nicht mehr weg und deswegen sind Hausaufgaben oder schriftliche Hausarbeiten tot. In der Schule gibt es sie noch, also hängt Schule auch hier der Entwicklung hinterher bzw. muss sich etwas anderes als Hausarbeiten einfallen lassen. Ende Blogpost.

Oder? ODER? Natürlich nicht.

Nein, Hausarbeiten sind nicht tot. Sie haben nur die Identität gewechselt.

Ich hatte kürzlich eine Unterhaltung mit einem Elternteil, das ich aus Elternbeiratszeiten kenne, als K1 noch in der Realschule war. Im Verlauf der Unterhaltung kam dann auch der Satz “die Kids nutzen ja eh für alles ChatGPT, schriftliche Hausaufgaben sind doch sinnlos”.

Ist das so? Oder ist möglicherweise einfach die Zeit gekommen, ein etwa zweihundert Jahres altes Konzept an das 21. Jahrhundert anzupassen?

Kleines Update: ich schreibe hier nicht über die täglichen Hausaufgaben, sondern Hausarbeiten/Studienarbeiten/Ausarbeitungen/Aufsätze (oder wie das in Eurem Bundesland an Eurer Schulform heisst 😎). Also über eine kurze Arbeit, in der sich Lernende mit einem klar abgegrenzten Thema aus Unterricht oder Studium auseinandersetzen. Ziel einer solchen Arbeit (wie bei einem Referat oder einer Präsentation) ist der Nachweis, in dem behandelten Themenfeld die notwendigen Kompetenzen erworben und diese schriftlich darlegen zu können.

Veraltete Annahmen zu Hausarbeiten

Die eigentliche Idee einer schriftlichen Hausarbeit stammt aus dem Schulsystem des 19. Jahrhunderts und beruht auf Annahmen, die bereits vor dem “KI”-Hype nur noch teilweise sinnvoll waren, mittlerweile aber vollkommen irrelevant geworden sind.

  • Lernende können ihre Gedanken ordnen und strukturieren.
  • Lernende können sich in der Unterrichtssprache kompentent und prägnant ausdrücken.
  • Lernende haben die Aufgabendomäne verstanden.
  • Anhand der Arbeit lässt sich sowohl der geleistete Aufwand als auch die Ausdrucksfähigkeit und das Verständnis ableiten.

Das ist nun alles hinfällig. Wie die Entwicklung im ersten Bildungssektor seit Jahren zeigt, sind die Kompetenzen in den ersten beiden Punkten rückläufig.

Bedingt dadurch wird auch das Verständnis der Aufgabendomäne nicht besser werden. Je mehr konsumierende Nutzung eines LLMs dazu kommt, um so stärker wird dieser Abfalls werden, der sich negativ auf den Aufbau eines eigenen Wissensnetzes auswirkt.

Zum letzten Punkt: weder der geleistete Aufwand noch das Verständnis der eigenen Arbeit lassen sich aus dem fertigen Text entnehmen. Nicht in einer Zeit, in der bereits Grundschüler:innen wie selbstverständlich Texte von einem LLM erzeugen lassen. Und falls jetzt jemand denkt, “es gibt doch Prüfsoftware, ob ein Text mit einem LLM erstellt wurde”, nein das gibt es nicht. Auch diese Systeme arbeiten nur mit Wahrscheinlichkeiten. Wie die aktuelle Diskussion um den Gedankenstrich (genauer, den Halbgeviertstrich) zeigt, der als Indikator für eine KI-Erstellung dienen soll, ist das völliger Unsinn. Eine Lehrkraft, die ihre Schülerinnen und Schüler kennt, wird eine Veränderung in Wortwahl und Aufbau sowieso besser kennen als jede Software.

Spätestens in den höheren Jahrgängen kommt erschwerend hinzu, dass sich Lehrkräfte für die eigene Nutzung dieser Werkzeuge rechtfertigen müssen, wenn sie Lernenden eben diese Nutzung verbieten. Die ersten Beschwerden mit Rückforderungen von Studiengebühren aufgrund der KI-Nutzung von Lehrpersonal gab es an amerikanischen Hochschulen bereits. Es läuft im Prinzip auf das hinaus, was sich mit “warum soll ich das selbst lesen, wenn Du Dir nicht die Mühe gemacht hast, das selbst zu schreiben?”.

Ja, LLMs können als Lernwerkzeug hilfreich sein. Ob sie das tatsächlich sind, ist eine andere Frage. Denn dazu muss es Lernenden ermöglicht werden, die hilfreichen und relevanten Aussagen von den nicht hilfreichen und irrelevanten Aussagen zu trennen. Dazu ist aber das Wissen und die Fähigkeit nötig, dessen Erwerb von den Schülerinnen und Schülern als zu mühsam eingeschätzt wurde, weswegen ja ein LLM genutzt wurde.

Der Zwiespalt der Lernenden bei der Nutzung generativer “KI” besteht darin, dass der bequeme Zugang und das schnelle Ergebnis mit der Erkenntnis einher geht, das sich diese Nutzung negativ auf Kreativität und Konzentration bzw. Arbeitsvermögen auswirkt.

Sehr viele Lerndende sind “text-überwältigt” und leiden unter einer Verkürzung der Fähigkeit zu fokussiertem Arbeiten. Wenn schon Zusammenfassungen oder Auszüge aus Werken genutzt werden, dann sollten diese als Teaser wirken, nicht als Surrogat der eigenen Beschäftigung mit einem Text.

Um eigenständig eine Hausarbeit zu erstellen, muss bereits neben grundlegenden Fähigkeiten zur Recherche und zur Strukturierung von Informationen auch ein “Wissensnetz” vorhanden sein. Auch wenn zu Beginn nur grobe Strukturen und wenige Knoten vorhanden sind, ist die ständige Arbeit an diesem Netz wichtig. Wird ein LLM dann nur genutzt, um die Ergebnisse zu produzieren, die sonst aus der Nutzung dieses Wissensnetzes entstehen, dann geht der Einsatz an der persönlichen Entwicklung vorbei.

Interessanterweise scheint die Nutzung eines LLMs nicht konsistent über alle Aufgaben zu sein, denn bei manchen Themenbereichen erfolgt durchaus ein eigenständiges Arbeiten und die Nutzung eines LLMs allenfalls als nachgeordnetes Werkzeug wie Thesaurus oder eine Literaturdatenbank. Bei anderen Themen dagegen entsteht eine reine “LLM-Hausarbeit”. Eine wissenschaftliche Betrachtung dieses Feldes wäre nötig, aktuelle gibt es nur anekdotische Aussagen, dass der Unterscheid in der persönlichen intrinsischen Motivation und den bereits vorhandenen Wissensnetz zu einem Themebereich liegt.

Was ist dann die “neue Identität” einer Hausarbeit?

Die neue Identität zeigt sich vor allem in zwei Aspekten, von denen der Aspekt, der die Lernenden betrifft, weniger aufwändig ist als der zweite, mit dem sich Lehrkräfte beschäftigen müssen: Werkdokumentation und formative Evaluation.

Es gibt keinen einfacheren Weg für Lernende, die eigene Arbeit an einer Arbeit nachzuweisen als eine Dokumentation des Entstehungsprozesses dieses Werks. Dies lässt sich leicht dokumentieren, auch wenn für bestimmte Arbeiten wie Formulierungen oder Übersetzungen KI-Software genutzt wurde. Ein Ordner mit Artefakten (Fotos, Versionstände, Backups) zeigt nachvollziehbar den Entstehungsprozess auf und kann bei Unklarheiten zu Rate gezogen werden.

Der größere Aufwand kommt (und das wird bei der weiteren Entwicklung unweigerlich auf diesen oder einen ähnlichen Ansatz hinauslaufen) auf die Lehrkräfte zu. Denn im Gegensatz zur reinen summativen Bewertung des Endergebnisses ist eine Art “Vorgehensgespräch” notwendig, in dem der Entstehungsprozess neben dem Ergebnis evaluiert wird. Auch eine Präsentation der Arbeit mit der Einbeziehung der Werkdokumentation wäre denkbar, hat aber den Nachteil, dass extrovertierte Lernende bei diesem Ansatz eine Vorteil haben.

Im Idealfalls findet diese formative Evaluierung bereits während der Entstehung statt, denn der große Vorteil für die Lerndenden ist bei diesem Ansatz, dass durch die Lehrpersonen ein Feedback zum Arbeitsprozess möglich ist, von dem Lernende deutlich mehr profitierne als von der reinen Endbewertung, bei der sie mit der Professionalisierung ihres Arbeitsprozesses allein gelassen werden.

Und nun?

Ich habe diesen Text mehr oder weniger als “note to self” aufgeschrieben, um später darauf zurückgreifen zu können. Die logische Schlussfolgerung wäre nun, die Evaluierung der Arbeiten von Lernenden zu ändern und an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Ich kenne allerdings seit vielen Jahren das Bildungssystem (das ist einer der Gründe, warum ich keine Karriere als Lehrkraft in Betracht gezogen habe) und weiß, dass so eine Erwartung völlig unrealistisch ist. Aber es bleibt die Hoffnung (irgendwann wird der EV Landshut auch wieder die deutsche Eishockey-Meisterschaft gewinnen 😆).

Tags: bildung ai

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