Der eingefrorene Franz

Vorwort

Die folgende Geschichte ist für Kinder im Alter von etwa 8 bis 10 Jahren geschrieben.

Eine Gute-Nacht Geschichte für Amelie
“Luce di miei occhi”

Der eingefrorene Franz

Der kleine Junge stand an der Reling am Heck des Dampfers und blickte hinaus auf das Meer. Dick eingepackt in Mantel und Schal bemerkte er gar nicht, dass ein kalter Wind blies. Es war schon Oktober und das Schiff fuhr hoch im Norden durch den Ozean. An seiner Hand hielt er einen weißen Teddybären fest, der einen kleinen blauen Seemannsmantel trug. Der Bär taumelte im Wind hin und her und schien zu tanzen. Der Junge blickte immer noch stumm auf das Kielwasser des Dampfers. Er war traurig, weil er weit von zuhause fort musste. Seine Eltern hatten beschlossen, nach Amerika auszuwandern. In ihrer Heimat hatten sie keine Arbeit gefunden. Damit sie nicht arm werden und hungern müssten, wollten sie auswandern. Die Großeltern des kleinen Jungen aber blieben in der Heimat zurück. Deshalb war er auch so traurig, denn er konnte seine Großeltern für lange Zeit nicht wieder sehen.

Zum Abschied hatten ihm Oma und Opa den Bären geschenkt. Den blauen Seemannsmantel hatte Oma selbst geschneidert. Auf dem Rücken des Mantels stand in schönen, großen goldenen Buchstaben der Name „Franz“ gestickt. So hieß der Bär, genau wie der kleine Junge, der den Bären an seiner Hand hielt. Franz sah die Welle nicht kommen, die von der anderen Seite heran rollte. Das Heck des Dampfers stieg in die Höhe, dann neigte sich das Schiff auf die Seite. Franz stolperte und musste sich mit beiden Händen an der Reling festhalten. Der Bär purzelte auf das Schiffsdeck und blieb auf dem Rücken liegen. Es sah aus, als würde er dem Rauch aus den Schornsteinen nachsehen und träumen.

Noch bevor Franz seinen den Bären wieder hochheben konnte, blies ein Windstoß den Teddybären über die nassen Planken. Franz der Bär sauste wie beim Schlittern auf dem Dorfteich über das Schiffsdeck, drehte sich ein Mal auf den Bauch und plumpste dann über die Bordkante ins Meer. Starr vor Entsetzen hielt der Junge den Atem an. Franz! Franz!! Schon war er weg, tanzend zwischen den Schaumkronen der Wellen. Das Letzte, das Frabz der Junge sah, bevor sich seine Augen mit Tränen füllten, war die Rückseite des Mantels mit dem gestickten „Franz“ und zwei weiße Bärenohren, die langsam in der Weite des Meeres verschwanden…

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Der Arzt sah das Fieberthermometer an und schüttelte langsam den Kopf. Besorgt strich er über die Stirn des Mädchens, das in dem Bett lag. Leonie hatte seit einer Woche ziemlich hohes Fieber. Der Arzt wollte ihr gerne helfen. Das war allerdings nicht einfach, denn der Arzt, das Mädchen Leonie und auch seine Eltern lebten in einer Forschungsstation am Nordmeer. Eine kleine Insel, kaum größer als eine Stadt auf dem Festland. Sieben Monate im Jahr dunkler Winter und riesige Eisschollen. Für Trinkwasser schnitten die Forscher mit einer Motorsäge Blöcke aus dem Eis und tauten das Eis auf. Nur Felsen und das Meer. Im viel zu kurzen Sommer noch Gräser und Blumen und auf der ganzen Insel 17 Bäume. Die hatte Leonie alle genau gezählt, im ersten Sommer auf der Insel.

Leonie fand nicht, dass dies eine schöne Insel zum Leben war. Aber ihr Papa und Ihre Mama waren da und das genügte ihr. Denn ihre Eltern hatten nur hier Arbeit gefunden. Sie waren beide Forscher und sollten noch für ein ganzes Jahr auf der kleinen Insel bleiben, um Eisbären zu beobachten. Danach würde Leonie so alt sein, dass sie zur Schule gehen musste. Die Mutter wollte dann mit ihm wieder zurück nach Hause fahren. Der Vater hatte seine Frau und seine Tochter aber sehr lieb. So hatten sie damals beschlossen, zusammen das erste Jahr auf der Insel zu wohnen und zu arbeiten. Jetzt im Spätwinter aber hielten die Eisbären Winterschlaf. Bald würden die ersten Bären wieder aufwachen. Die neugeborenen Bärenkinder konnten dann mit ihrer Mutter die Umgebung der Eishöhle erkunden. Das kleine Mädchen aber würde nicht dabei sein, wenn es nicht gesund werden würde. Der Vater und der Arzt sprachen leise miteinander, als sie an Leonies Bett standen. Der Arzt brauchte eine ganz bestimmte Medizin, aber im Winter konnte kein Schiff so einfach an der Insel anlegen. Es gab viel zu viel Packeis und das Eis war auch viel zu dick.

In seinen Fieberträumen redete das Mädchen von den weißen Bären, die in Schnee und Eis schliefen. „Ich will die Bären besuchen, Papa“, murmelte Leonie. Sie hatte im Herbst zusammen mit ihren Eltern einen neugierigen jungen Eisbären beobachtet. Gar nicht oft genug konnten ihre Eltern mit ihr zu den Bären wandern. Jeden Tag wollte sie den Bären beobachten, um eine Forscherin zu werden wie ihre Eltern. Jetzt träumte sie oft von dem jungen Bären, weil ihr durch das Fieber so kalt war. Diese Kälte! Und wo war wohl der weiße Bär? Im Schnee? Ob es ihm gut ging? Es war doch so kalt!

Der Vater von Leonie erfuhr vom Arzt, dass das Fieber viel zu hoch war. Jetzt musste sie so schnell wie möglich in ein Krankenhaus. Da aber kein Schiff kommen konnte, hatten die Eltern und die anderen Forscher aufgeregt mit vielen Leuten telefoniert und per Funk gesprochen. Man wollte ein schnelles Flugzeug schicken, aber das konnte erst in einem Tag hier sein. Seufzend strich der Vater über Leonies schweißnasse blonde Haare. Dann stand er auf, drückte die Hand seiner Frau und zog seinen Schneeanzug an. Denn der Arzt hatte mit seinen Kollegen telefoniert und lange diskutiert. Damit das Mädchen wieder gesund werden konnte, durfte es sich nicht länger über den Eisbären aus ihrem Traum aufregen. Außerdem musste das Fieber endlich aufhören zu steigen. Vor lauter Angst hatten die Eltern schließlich beschlossen, ihr Kind in Eisbeutel zu packen. So konnte sie die Stunden bis zur Landung des Flugzeugs überstehen. Der Vater ging mit einem anderen Forscher nach draußen, um mit der Motorsäge einen Eisblock zu schneiden. Den wollten sie zerkleinern und in Tüchern rund um das Mädchen legen.

Leonies Mutter und der Arzt saßen in der Zwischenzeit am Bett des Kindes. „Sie muss endlich ruhiger werden“, sagte die Mutter. „Leonie regt sich so auf, weil sie dauernd von dem jungen Eisbären träumt“, meinte der Arzt, „das kommt von dem Fieber“. Plötzlich öffnete sich wieder die Zimmertür. Dort stand der Vater mit einem sehr merkwürdigen Gesichtsausdruck. Er hielt einem Eisblock in den Armen. „Das werdet ihr nicht glauben“, sagte er leise zu seiner Frau und dem Arzt. Langsam stellte er den Eisblock auf einen Tisch und drehte ihn etwas. Das Eis begann bereits zu schmelzen. Der Arzt und die Mutter trauen ihren Augen nicht. Aus dem Eisblock schaute ein von der Motorsäge angekratztes Eisbären-Ohr! So schnell wie möglich klopften alle das Eis von dem Block und befreiten, was darin eingeschlossen war.

Dadurch wurde das kleine Mädchen wieder wach. „Was macht Ihr denn da?“, fragte Leonie mit müder Stimme. Die Mutter hob etwas hoch und drehte sich zu ihrem Kind um. „Sieh mal mein Schatz, was Dir die Bären aus dem Eis geschickt haben“, sagte sie. Leonie glaubte schon, wieder einen Fiebertraum zu haben. Ein Eisbär! Ein richtiger kleiner weißer Bär mit Eiszapfen in seinem Fell! Leonie hatte endlich den jungen Eisbären gefunden! Und ihre Eltern hatten ihr dabei geholfen.

Während der Arzt vorsichtig das Eis um ihren heißen Körper stapelte, sank sie wieder zurück in die Kissen, den Bären fest umklammert. „Da bist Du ja endlich, mein Freund“, murmelte sie noch, dann war sie schon wieder eingeschlafen. Jetzt konnte ihr und dem Bären nichts mehr passieren! Nach einigen Minuten blickte der Arzt auf und ging zu den Eltern. „Das Eis hat geholfen, das Fieber steigt zumindest nicht weiter. Sie schläft auch viel ruhiger“, sagte er den Eltern. Dann sah er den Vater an, der noch immer mit dem Schneeanzug am Tisch stand. „Was haben Sie denn da aus den Eisschollen geschnitten?“, wollte der Arzt wissen. Wortlos gab ihm der Vater etwas in die Hand. Es war ein kleiner, blauer Seemannsmantel und auf dem Rücken stand in schönen Buchstaben gestickt - “Franz”.

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Mit einem leisen Klacken schloss sich die Tür des Untersuchungszimmers im Krankenhaus. Das Flugzeug hatte Leonie und ihre Mutter von der Insel zurück aufs Festland gebracht. Gleich vom Flughafen hatte sie dann ein Krankenwagen in die Klinik gebracht. Seit fast einer Woche lag das kleine Mädchen nun hier und wurde untersucht. Jetzt war das Fieber schon fast weg, weil die Ärzte die passende Medizin gefunden hatten. Gestern hatte der Doktor sogar schon davon geredet, dass sie wieder nach Hause kommt. Franz, den Bären hatte sie die ganzen Tage immer fest im Arm gehabt und sich beim Schlafen an ihn gekuschelt.

Ihre Mutter hatte in den letzten Tagen mindestens zehn Mal mit ihrem Papa auf der Bäreninsel telefoniert und alle Forscher dort waren froh, dass es Leonie wieder besser ging. Alle sprachen noch immer über den eingefrorenen Franz, wie der Teddybär genannt wurde. Alle möglichen Ideen kamen zur Sprache und die Forscher forschten nun in ihrer Freizeit daran, wo Franz wohl her kam. Aber all das wussten das kleine Mädchen und seine Mama nicht, als sie diesen Nachmittag zur letzten Untersuchung gingen. Wenn alles in Ordnung war, dann konnten sie das Krankenhaus verlassen und am Ende der Woche wieder mit einem Flugzeug zurück zur Bäreninsel fliegen. Als die beiden schon eine Weile vor dem Untersuchungszimmer gewartet hatten, kam eine Krankenschwester vorbei und sagte „Leonie, heute bekommst Du für Deine letzte Untersuchung sogar zwei Doktoren. Denn wir haben einen jungen Arzt, der bald mit seiner Ausbildung fertig ist und heute bei der Untersuchung dabei sein wird“. Leonie schaute hoch und antwortete “Solange Mama und Franz dabei sein dürfen”. Die Schwester lächelte und nickte. “Natürlich, meine kleine Bärenforscherin. So, und jetzt herein mit Dir”.

Dann öffnete sie die Tür und ließ die beiden eintreten. Leonie hatte keine Angst mehr der Untersuchung. Sie kannte die Untersuchungen ja schon von den Tagen vorher. Der junge Doktor, der dabei war, der war auch ganz nett und erzählte ganz genau, was immer als nächstes passieren würde. Aber während der ganzen Zeit blickte der junge Arzt immer wieder auf Franz in seinem blauen Mantel. Dann schaute er immer so komisch Leonie an. „So, alles in Ordnung, meine kleine Dame. Morgen kannst Du nach Hause“, sagt der ältere Arzt da. „Hast Du gehört, Mama? Ich kann wieder zurück zu den Bären!“, freute sich Leonie. „Ja, mein Schatz. Das erzählen wir gleich Papa“. Gerade als die Mutter aufstehen wollte, sagte der junge Doktor: „Entschuldigen Sie, ich hätte da noch eine Frage“. Wieder sah er Leonie und den Bären an. Dann wollte er wissen, ob Leonies Mutter den Bären vielleicht auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Oder vielleicht war er ein Geschenk von Ihrer Oma? Nein, das war Franz natürlich nicht. Leonie und ihre Mutter erzählten dem Arzt die Geschichte von Franz und wie er zu dem Mädchen kam.

Der schüttelte daraufhin langsam den Kopf. „Das kann eigentlich gar nicht sein. Du wirst Dich vielleicht wundern, warum ich Deinen Bären die ganze Zeit so angesehen habe, aber ich erzähle Dir jetzt auch eine Geschichte“, sagte er zu Leonie. “Ich bin in diesem Land geboren und aufgewachsen, aber meine Vorfahren kommen auch aus Europa. Mein Großvater ist als kleiner Junge nach Amerika gekommen. Damals gab es noch keine Flugzeuge und so fuhr er zusammen mit seinen Eltern auf einem Dampfschiff nach Amerika. Eigentlich wollte er viel lieber bei Oma und Opa bleiben, aber es ging nicht. Ich weiß das so gut, weil er mir das immer erzählt hat, als ich noch ein ganz kleiner Junge war. Und er hat mir auch erzählt, was ihm damals passiert ist und wieso er bei der Ankunft so lange traurig war”.

Der Arzt zog eine Brieftasche aus seiner Jacke. „Ich habe meinen Opa sehr lieb gehabt und er mich. Deshalb hat er mir als Erinnerung an ihn das Foto hier geschenkt“. Mit diesem Worten zog er ein altes Schwarz-Weiß-Bild aus der Brieftasche und drehte es mit zwei Fingern langsam so um, dass Leonie und ihre Mutter das Bild sehen konnten. Auf dem Bild war im Hintergrund ein Hafen zu sehen und im Vordergrund ein kleiner Junge, neben sich zwei ältere Leute. Ein Mann und eine Frau. „Das war mein Opa, als er klein war, mit seinen Großeltern, vor der Abfahrt in Hamburg. Guck mal genau hin“, forderte der junge Arzt Leonie auf. Das Mädchen sah sich das Foto aus der Nähe an. Der Junge hielt sich mit einer Hand an seiner Oma fest. Mit dem anderen Arm hielt er einen Teddybären fest, der zu ihm schaute. Man sah nur die beiden großen weißen Ohren, einen Teddyarm und die kurzen Beine. Und einen dunklen Seemannsmantel, auf dem die winzige Schrift kaum noch zu erkennen war. Da stand: “Franz”.

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