Ein Weihnachtswunder?

Mein persönliches »Weihnachtswunder«

Es gibt den alten Spruch “man sollte seine Fehler früh machen, damit man lange daraus lernen kann”. So gesehen habe ich nur einen Ratschlag befolgt, von dem ich heute noch lerne und der mir vor genau vierzig Jahren gezeigt hat, dass jeder nachdenken sollte, welche Dinge wirklich wichtig sind. So eine Art von persönlichem Weihnachtswunder. Jedenfalls glaube ich seit diesem Tag an Weihnachtsschutzengel, denn die haben am 23.12.1983 bestimmt ihr Gleitzeitkonto geplündert und für mich Überstunden geschoben. Ich denke oft daran, das nichts selbstverständlich ist und jeder Tag wirklich ein Geschenk.

Vor vierzig Jahren am Tag vor Weihnachten war ich gerade mit der Grundausbildung bei der Bundeswehr fertig (kalter Krieg, Nachrüstung, das politische Klima war auch damals nicht immer so ruhig wie heute gerne erzählt wird). Die fand – ich komme aus Niederbayern – der seltsamen Logik der Bundeswehr folgend natürlich in der Nähe von Speyer statt. Mit dem in Ferienjobs mühsam verdienten ersten Auto, einem gelben Renault 12 fuhr ich damals von Dingolfing hoch nach an den Rhein. Am 23. Dezember sollte laut Marschbefehl wieder zurück und mich in meiner zugewiesenen Kaserne in Rottenburg melden. Dann Weihnachten bei Familie und Freundin. Über die A8 waren das knapp 380 Kilometer und etwa 4 Stunden. Ich kam aber nur bis Günzburg …

23.Dezember 1983, A8 bei Günzburg

Schon die Tage vor der Abfahrt nicht genug geschlafen, Wache gehabt und auf dem ganzen Weg müde gewesen. “Na, das geht schon, dann trinke ich in Augsburg oder so einen Kaffee und mache Pause”, dachte ich mir. Fenster auf, kalte Frischluft und Radio an (Nein, “driving home for christmas” wurde erst 1986 veröffentlicht 😉) und dann nach der Meldung in der Kaserne nach Hause. Ich konnte den Kaffee schon riechen…

Blitzartig stört ein kreischendes Geräusch meine müde Vorfreude. Ich reiße die Augen auf und sehe Funken fliegen und anderes Zeug. Alles schüttelt, rüttelt und es kreischt weiter. Was zum Teufel ist da los? Irgendwann verebbt das Geräusch, es hört auf zu rütteln und eine seltsame Stille breitet sich aus. Mir tut alles weh. Ich öffne die Augen und bemerke, dass ich irgendwas im Gesicht habe. Vorsichtig wische ich die Augen frei und stelle fest, dass ich schief im Auto sitze und vor mir, da steht was. Einen halben Meter vor mir ist eine gelbe Metallwand mit einer Zeichnung. Eine Kuh, ein Schwein und ein Hahn und da drunter steht DEUKA Kraftfutter. Langsam wird mir klar, dass gerade irgendwas furchtbar schief gegangen ist.

Ich greife mir an den Kopf und fühle etwas weiches, feuchtes. Scheisse! Ich sehe auf meine Finger und alles ist – voller Fleischsalat! Da ist kein Blut, aber Glassplitter und Fleischsalat überall! Meine Marschverpflegung aus der Kaserne, ein Pfund Fleischsalat und Brotscheiben. Vorsichtig wische ich das Zeug aus dem Gesicht. Wie jemand aussieht, wenn ein Pfund Fleischsalat auf dem Beifahrersitz schlagartig auf Null abgebremst wird und dann mit der Windschitzscheibe in Splittern wieder zurück kommt, überlasse ich der Phantasie meiner Leser:innen. In dem Moment war mir das auch egal, Ich höre Schritte und Gefluche. Jemand kommt an mein Auto, dass erstaunlicherweise keine Windschutzscheibe mehr hat und ein sehr verbogenes Lenkrad. Wo ist eigentlich meine Brille? Und warum tut mir alles weh? “Ha noi, da hängt ja einer drunter”, brüllt es. Drunter? “He Du, geht’s Dir gut?” sagt der Mann draußen und ich löse mühsam den Sicherheitsgurt und versuche die Tür zu öffnen. Das Teil klemmt. Zusammen bekommen wir die Tür auf.

Ich steige mir zitternden Beinen aus und sehe mich um. Tatsächlich ein LKW mit Anhänger. Wir stehen in der Verzögerungsspur vor der Ausfahrt Günzburg und mein schöner gelber R12 sieht nicht so aus, wie er aussehen sollte. Ich habe offensichtlich den Anhänger eines LKW auf die Hörner genommen. Nur weiß ich gar nichts von einem LKW vor mir…

Der Renault nach dem Crash von vorne

Neben mir tauchen zwei Polizisten auf und wollen wissen, ob es mir gut geht und ich sprechen kann. Ich nicke bedächtig. “Können Sie was zum Unfallhergang sagen?”, meint einer der Beamten. “Ich? Ich weiß nicht. Ich hab die Augen aufgemacht und vor mir steht DEUKA Kraftfutter”, antworte ich. “Warum, wieso sind Sie so schnell hier?”. Die beiden Beamten stutzen. “Sie haben uns etwa 300 Meter vorher überholt”, meint der andere und guckt seinen Kollegen seltsam an.

Oh wow! Ich bin eingeschlafen, auf der Autobahn! 😱 Und ich habe einen Futter-Truck gerammt, der offenbar gerade von der A8 runter wollte! Und ich habe im Schlaf einen Polizeiwagen überholt! Und ich habe einen komischen Geschmack im Mund (ich weiß jetzt, wie Adrenalin schmeckt).

Sie sind ein Glückspilz, wir waren mit etwa 120 km/h unterwegs, setzen Sie sich hin, wir rufen einen Notarzt”, sagt einer der Polizisten. Einen Moment später höre ich ein Signalhorn und ich denke mir noch, “die sind aber schnell”, da sehe ich einen Rettungswagen ankommen. Zweiter Teil meines persönlichen Weihnachtswunders nach dem Teil mit dem am Leben bleiben: im Schlaf die Polizei überholen und dann einen freien Rettungswagen ein paar Hundert Meter vor der Ausfahrt der Gegenrichtung haben. Wenn schon, denn schon. Der Notarzt will den Fahrer sehen. “War ich”, antworte ich matt. “Aus dem Auto steigt niemand mehr selbst aus”, entgegnet der Mediziner. Die Polizei und der LKW-Fahrer bestätigen ihm, dass ich der Idiot bin, der in dem Auto saß. Notfall-Check, ich werde kurz abgefragt und dann war’s das. Ich muss nicht ins Krankenhaus, alle Reaktionen sind so, dass der Arzt zufrieden ist. Ich war auch danach in keiner Klink, die haben miche infach so gehen lassen. 🤪 Die Polizei sorgt dafür, dass LKW und Auto von der Ausfahrt geschlepp werden und mein Adrenalinpegel sinkt langsam. Ich rufe meine damalige Freundin an, die als Krankenschwester arbeitet und erzähle ihr, was gerade passiert ist. “Klar, Du schläfst bei über 102 im Auto ein, überholst im Schlaf die Grünen und parkst unter einem Laster und dann rufst Du mich an, um mir zu sagen, dass es spät wird. Ich hab hier Leute, denen fehlt wirklich was!” ist die Reaktion und dan legt sie auf. Netterweise ruft einer der Polizisten nochmals an und erklärt, dass das kein dämlicher Scherz war. Immerhin, jetzt ist sie doch echt besorgt. 😉

Ein Glückspilz und ein sehr gutes Auto

Dann Anruf bei meinen Eltern, die sind sofort sehr besorgt. “Wie geht’s Dir? Bist Du in Ordnung?” Jaja, geht so, aber ich stecke mit einem Autowrack in Günzburg und komme nicht weiter. Und mit 19 sind die Eltern dann doch auf einmal noch sehr wichtig. Mein Vater sagt, er setzt sich ins Auto und kommt zu mir. In der Zwischenzeit habe ich Zeit zum Nachdenken und sehe mir den Renault mal an. Da wo auf dem Bild der Knick in der A-Säule der Beifahrerseite ist, da stand der Aufbau des LKW-Anhängers. Einen Meter weiter rechts im Schlaf und ich könnte das alles hier gar nicht schreiben. Alles an der Auto wackelt oder ist nicht mehr in Ordnung. Meine Brille finde ich irgendwo hinter dem Sitz. Das Loch, wo mal der Motorraum war, sieht auch etwas “umarrangiert” aus. Super gemacht, das war Dein Auto, denke ich in dem Moment. Heute und die Jahre danach denke ich vor allem, was für ein cooles Auto dieser R12 war und dass Renault dieses Modell für den Einsatz auf den Buckelpisten Nordadrikas geplant hatte. Alles etwas robuster und der Rahmen ausgelegt für marokkanische Transporteinsätze weit hinter Tanger. Das hat mir wahrscheinlich im Wortsinne den Hals gerettet. “Einen Tag vor Weihnachten, das Christkind gibt es wohl also doch”, denke ich mir. Mit einer anderen Klapperkiste wäre das sicher anders ausgegangen.

Als mein Vater auf den Hof fährt und das Auto sieht, reißt er die Augen auf und unterdrückt den Impuls, mich zu umarmen, weil ich gleich zurückweiche und rufe, “Bitte nicht, mir tut alles weh”. “Das ist egal, steig’ ein, Du fährst heim”, meint mein alter Herr. Ich da rein und fahren? Aber sicher nicht! “Wenn Du jetzt nicht einsteigst und fährst, fährst Du nie wieder auf einer Autobahn, weil Du immer Angst haben wirst”, ist seine Antwort. Ende vom Lied: ich fahre von Günzburg nach Dingolfing. Heute undenkbar, nach einem 5 Minuten Check am Rettungswagen. Ich hatte vorher die Kaserne angerufen, die waren nicht begeistert, aber leidlich zufrieden, dass die Verstärkung der Landesverteidigung nur angeschlagen war. Ich bekam nicht nur Weihnachten, sondern bis Dreikönig frei und solte mich danach melden.

Ich lerne immer noch aus diesem “Frühen Fehler”, vor allem aber, dass kein Termin so wichtig ist, dass ich übermüdet Auto fahre. Ich bin den vierzig Jahren seitdem oft rechts rangefahren, auf einen Parkplatz oder eine Seitenstrasse und habe einfach eine Pause gemacht und geschlafen. Nochmal bleibt es nicht bei einer gelben Karte. Und ich bin meinem Vater dankbar, dass er mich hinters Steuer gesetzt hat. Ich fahre immer noch gerne Auto. Allerdings muss ich jedes Mal, wenn ich einen DEUKA-LKW sehe, an den 23. Dezember vor vierzig Jahren denken.

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