L’anno che verrà (das kommende Jahr)
Das kommende Jahr? Am 2. Januar? Um einen ehemaligen Tennisspieler zu zitieren: “Bin ich schon drin?”. Ja Armin, Du bist schon drin im neuen Jahr 2024, dem unberührbaren, pseudoperfekten. Na, das sind ja schon mal schöne Aussichten… 😆
Vor einigen Tagen ging a die übliche Flut der Jahresrückblicke auch durch die Blogs in meinem RSS-Reader. Ich lese die Posts zwar, bin aber kein großer Freund von Rückblicken. Kannst Du eh nicht mehr ändern. “acta est fabula”, wie der geschätzte Bloggerfreund Herr Mess wohl schreiben würde. Oder in Abwandlung des Spruchs auf den Rückspiegeln von Autos: “Topics in the year’s review post appear more important than they are”. Alles Geschichte, nicht mehr änderbar. Die Zukunft hingegen, also eine Vorschau auf das Jahr 2024…
Stimme im Kopf des Autors: “Armin, das ist genauso Unsinn, hat der Dalai Lama schon gesagt und der ist weiser als Du”
Es gibt nur zwei Tage im Jahr, an denen man nichts tun kann.
Der eine ist Gestern, der andere Morgen.
Dies bedeutet, dass heute der richtige Tag zum Lieben, Glauben und in erster Linie zum Leben ist.
– Seine Heiligkeit Tenzin Gyatso, 14. Dalai Lama
Persönlich habe ich natürlich auch Hoffnungen und Erwartungen an die Zukunft, allerdings ist mir bewusst, dass ich diese nicht beeinflussen kann und folglich besser im Hier und Heute lebe. Das Leben ist nicht planbar. Wem der Dalai Lama zu schwergewichtig ist, auch John Lennon (der 2023 nochmal eine Single mit den Beatles veröffentlicht hat, also ist die Vergangenheit wohl per Software doch noch für was gut) hat eines dieser Zitate:
Leben ist das, was dir passiert,
während du damit beschäftigt bist,
andere Pläne zu machen.
– John Lennon
Dankbar sein und nach vorne sehen
Das klingt nicht optimistisch? Doch, es muss Dich ja nicht der Mut verlassen, nur weil die Menschheit wieder nichts dazu gelernt hat, um die Welt besser zu hinterlassen, als sie am Jahresanfang vorgefunden wurde. Die kleinen guten Dinge, die halbwegs gut laufen, das reicht oft schon. Für zu viele von uns sind zu viele Dinge zu selbstverständlich geworden. Der Anfang dieses Jahres ist schon deutlich besser als das letzte. Wenn Anfang Januar im Schlafzimmer drei orange gekleidete Notfallmediziner:innen um Deine Frau rumstehen und meinen, “Puls 38, das Kalium haut auch ab, wir sollten los”, dann ist das nicht die Art von Start ins neue Jahr, die man haben will (mittlerweile alles gut, aber das war nicht der einzige Klinikaufenthalt 2023 😆).
Dankbarkeit und Offenheit gegenüber dem, was das Jahr bringt. Auch wenn es wieder keine Wende in der Klimapolitik geben wird, die Kriege in der Welt weitergehen werden, die Artenvielfalt weiter einbrechen wird und die Gier des Kapitalismus ungebremst weiter geht? Ja, auch dann. Denn auch das virtuelle Unterzeichnen einer Petition im Web oder das Verzichten auf eine Urlaubsfahrt (ich fliege schon lange nicht mehr) wird die Welt nicht retten (wirksame Maßnahmen werden nicht gewollt, solange Leute mit Hunderten von Privatjets von einer Veranstaltung wie dem WM-Finale heimfliegen, soviele Jahrhunderte könnt Ihr gar nicht mit dem Lastenrad fahren, um allein das zu kompensieren). Das klingt fatalistisch, ja negativ? Mag sein, liegt wahrscheinlich daran, dass ich als alter Sack (Boomer, Boomer!) in einer zeit und einem Klima groß wurde, als die Welt mindestens so gefährdet wie heute war.
We didn’t start the fire …
Atomkriegs-Gefahr (Ihr alle könnt übrigens Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow gar nicht genug danken, also denkt wenigstens ab und zu an ihn), Nachrüstung, der Terrorismus der 70er (ich habe mehr als eine Schulaufgabe wegen einer Bombendrohung zweimal geschrieben), Waldsterben, das Ozonloch, Raucher überall, Giftstoffe, Ölkatastrophen, ich könnte hier ganze Absätze lang weitermachen…
Und trotzdem habe ich immer eher nach vorne als zurück gesehen. Es bleibt einem ja auch kaum was anderes übrig. Wozu soll ich in Jahresrückblicken schwelgen, das kommt von ganz allein. Wie der oben erwähnte Dalai Lama sagte: “Lebe ein gutes, ehrbares Leben! Wenn du älter bist und zurückdenkst, wirst du es noch einmal genießen können”. Ohne ein Hoffen auf die Zukunft und das Vertrauen, im jetzigen Tag sein Bestes zu geben bliebe nur die Resignation und das Zurückkriechen in ein Erdloch. “Ah, der alte Luther”, werden jetzt einige denken, “Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen”. Blöd nur, dass er das nie gesagt hat, der Mönch. Der wartete wohl wirklich eher auf den Untergang der Welt. Mehr zum angeblichen Zitat findet sich hier.
Was mich aber, um beim Apfelbaum zu bleiben, nachhaltig beeindruckt hat, ist das 1985 erschienene Buch, “So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen” von Hoimar von Ditfurth. Ja, auch wir hatten Anfang der 80er schon unseren Dirk Steffens oder Hannes Jaenicke (dessen Vater in Regensburg an der Uni übrigens mein Bio-Prof war), der sich um die Welt sorgte. Was hat sich in den letzten 40 Jahren getan? Das Montreal-Abkommen 1987 zur FCKW-Reduktion war die letzte tatsächlich wirksame internationale Vereinbarung zum Umweltschutz, an die ich mich erinnere. Seitdem? Gelaber, von Rio 1991 bis zu dieser Pseudo-Show COP28 in Dubai letztes Jahr. In seinem Buch beschreibt Hoimar von Ditfurth ziemlich drastisch, wie die Menschheit mit der Natur weiter umgehen wird. Auch heute noch, fast 40 Jahre später sehr lesenswert.
Auch eines meiner Lieblingslieder zum Jahreswechsel, Lucio Dalla, “L’anno che verrà” wurde 1979 veröffentlicht und sprüht auch nicht gerade vor Optimismus. Aber hat Signore Dalla dann aufgehört, Lieber zu schreiben? Nein. Auch ich höre nicht auf, meinen kleinen Kräutergarten zu pflegen, zu hoffen, dass unser Kind sich in der Welt (die sicherlich anders sein wird, aber die Steinzeit endete nicht, weil uns die Steine ausgegangen sind) zurechtfinden wird, dass es sich lohnt, Dinge zu schreiben, Bilder zu malen, nett und höflich zu Anderen zu sein (ich glaube an random acts of kindness). Wie in Ditfurths Buch geschildert wird die Menschheit natürlich aussterben, wird sich die Erde verändern und andere Arten eine bessere Nische finden. Das ist der Lauf der Evolution. Darum finde ich den Begriff “Klimakatastrophe” auch etwas reißerisch. Für uns als Menschen wird es eine solche werden (und blöd genug, dass wir die Idioten waren, die sie im wahrsten Sinne des Wortes befeuert haben), aber die Erde war schon ein Eisball, eine Gluthölle, ein Dschungel, warm oder kalt und es hat weder die Erde noch das Leben gekümmert.
Don’t talk, do it or be quiet
Wir werden so lange wie bisher weitermachen, wie es geht. Niemand wird 2024 Öl verbieten, niemand wird ein Tempolimit einführen, niemand wird plötzlich zum Umweltengel, weil ein Post auf irgendeinem (a)sozialen Netzwerk die Erleuchtung brachte. Nein, wir werden uns auch 2024 erst dann ändern, wenn es sein muss. Das liegt in der Natur des Menschen. Das mag für viele Leser:innen jetzt desillusionierend klingen ("aber man muss doch was tun"). Aber “the powers that be” hängen nicht auf Online-Plattformen rum oder lassen sich davon beeinflussen. Ganz im Gegenteil, wie das Beispiel eines reichen Erben und Techbros zeigt, wird das als Megaphon für die eigenen kruden Ansichten genutzt (und sogar dann kleben noch genügend Leute, die eigentlich einen Bildungsauftrag hätten, auf dessen Plattform, weil Reichweite offenbar so wichtig ist). Es wird enden, wie es T.S. Eliot in seinem Gedicht “Hollow Men” schreibt, “not with a bang, but a whimper”. Ich lese seit 40 Jahren wie wichtig Bildung ist, was sich alles am Schulsystem ändern muss, wie wichtig Umweltschutz ist, warum wir alle weniger Fleisch essen sollten? Ich kann Euch sagen, wann sich Dinge ändern: wenn aufgrund der globalen Veränderungen nicht mehr ein paar Hunderttausend, sondern etwa 40-50 Millionen Leute aus Afrika aufbrechen und in den bewohnbaren Nordteil der Festung Europa wollen (Südeuropa ist dann schon in großen Teilen Halbwüste), Kriege werden wegen Trinkwasser geführt werden und hier in Europa sitzen Leute vor Rechnern, die sie weder verstehen noch selbst bauen könnte, die nicht in der Lage sind, einen Motor oder ein Windrad selbst zu bauen oder zu schweißen, wenn die Infrastruktur ausfällt und diskutieren darüber, was Leute alles tun müssen, um die Welt zu retten.
Also lieber realistisch bleiben, an Stellen einwirken, die wirklich Veränderungen auslösen können. Nein, das sind keine Blasen in der Blase, wo das halbe Prozent der Bevölkerung denkt, zu wissen, wie der Hase läuft. Niemand hat jemals was geändert, indem gepostet wurde, wie schlimm das Leben ohne Radwege ist. Bewirkt in der Lokalpolitik, dass Radwege kommen. Wenn Ihr das nicht könnt, kommt in eine Position in der Ihr das könnt. Wenn Ihr ein Tempolimit auf Autobahnen wollt, bringt Euch in eine Position, in der Ihr das durchsetzen könnt. Wenn nicht, dann lasst es und jammert aber auch nicht. Der berühmte “Marsch durch die Institutionen” der alten Säcke hatte seinen Grund. Lernt, nett zu sein, mehr Achtsamkeit für die kleinen Dinge zu entwickeln und sich der großen Privilegien bewusst zu werden, die wir Europäer haben und die keineswegs selbstverständlich sind. Und um doch den Bogen zurück in die Welt vor 40 Jahren zu spannen und zumindest in einem Satz doch zurück zu blicken (Ha! Er tut es doch! 😉 😃): stellt Euch einfach vor, Donald Trump gewinnt die Wahl 2024 und kappt die Hilfen für die Ukraine und reduziert das Engagement in der NATO. Dann könnt Ihr bald auf kyrillisch diskutieren, warum es ein Sondervermögen für die Bundeswehr, aber nicht für Radwege gibt.
Wie Billy Joel sang, “we didn’t start the fire. It was always burning, since the world’s been turning”. Für die Zukunft einfach an den Spruch aus dem Internet denken:
Wenn man bedenkt, dass wir auf der dünnen Kruste eines Magmaballs leben, dessen Wärme zur Hälfte aus radioaktivem Zerfall stammt und der im absoluten Vakuum um einen aktiven Fusionsreaktor ohne jede Abschirmung kreist, dann geht’s eigentlich…
Kommentare
Der Herr_Mess hat einen Kommentar dagelassen:
Lieber Armin, leider nicht zu pessimistisch, da alles meiner Meinung nach ziemlich realitätsnah erscheint. Ich finde, dass man es aktuell zum modus operandi erhoben hat, Katastrophen deutlich vor sich zu sehen… sie aber schulterzuckend zu akzeptieren: Rechtsradikale Ministerpräsidenten im Osten, Klimakrise, Populismus. Man weiß in der Regel, warum es so ist, wie es ist. Aber man unternimmt nichts dagegen. Zu bequem, zu viel Gegenwind, zu viel “Was kann ich schon ausrichten?” Mich nervt’s. Und es muss wohl wirklich irgendwo ein Progrom stattfinden, damit die Leute merken, dass gewisse - ferngeglaubte - Zeiten in manchen Regionen unmittelbar bevorstehen :-/
Ein Kommentar von Andreas Moser
Du hast auch in Regensburg studiert? Na, wenn man die hässlichste Universität Deutschlands überlebt hat, dann kann einen sonst natürlich kaum mehr etwas umhauen. ;-) Mir geht’s genauso wie dir: Ich verstehe nicht, wie man angesichts des möglichen Auseinanderfallens der NATO und des Klimakollapses über Mehrwertsteuersätze und Gendersternchen diskutieren kann. Und ja, Leute, geht in die Politik! Oder zumindest in eine Partei. Ich sage bewusst Partei, auch wenn das altmodisch erscheint im Vergleich zu all den hippen und coolen Initiativen und Bewegungen. Aber in einer politischen Partei lernt man, mit unterschiedlichen Meinungen umzugehen, sich trotz Differenzen zu respektieren, weil man Grundüberzeugungen teilt. Und Jahresrückblicke gibt es bei mir schon deshalb nicht, weil ich dann entsetzt feststellen würde, wie wenig ich von dem geschafft habe, was ich mir einst vorgenommen hatte. :-)
Kommentar zum Kommentar 😉 Ich fand die Uni gar nicht so schlimm (ja, ok, 70er Beton-Industrial-Style), weil ich Campus-Unis sehr mag statt einer über die ganze Stadt verstreuten Uni mit in Jahrhunderte alte Bauten “einkompromisste” Räume für naturwissenschaftliche Forschung. Und dass es in der Chemie-Cafeteria damals Mitte der 80er schon anderes Bier gab als vom lokalen Fürsten war ein Hit und spricht für die Chemiker. 🤣