Zollkiesel statt Meilensteine
Digitaler Zettelkasten eines chronisch Neugierigen
Zollkiesel statt Meilensteine
Digitaler Zettelkasten eines chronisch Neugierigen
Nein, das wird keine Rezension der Neuverfilmung von “Momo”. 😉 Sondern meine Gedanken zu einem höchst interessanten Blogpost von Michael Gisiger, in dem er über den Unterschied zwischen Chronos und Kairos schreibt: “Wenn die Uhr lügt. Chronos, Kairos und die Kunst des rechten Moments”
Geht ruhig zuerst den Blogpost lesen, ich warte hier. Es lohnt sich! 😎
Genau das fehlt uns heute oft: die Fähigkeit, das Leben nicht nur abzuarbeiten, sondern es zu bewohnen.
Ein schöner Satz. Chronos als rational geplante Zeit ist das notwendige Übel, um durch den Tag zu kommen, aber es ist sicherlich nicht das Ziel. Wenn Du das Glück (oder das Pech 😉) hast, an einem eher “zeitlosen” Ort zu leben, ist Chronos arbeitslos. Was ich damit meine, verdeutlicht eine meiner Lieblingsanekdoten aus der Arbeitswelt. Ein guter Freund von uns hat einige Zeit auf Curaçao in einem Rechenzentrum gearbeitet und ihm wurde gleich am ersten Tag von seinem neuen Team klar gemacht, dass er Minutenangaben bei Terminen vergessen kann. Und “10 Uhr” bedeutet “nach dem Frühstück, aber vor dem Surfen Mittags”. 😆
Das wäre auch für meinen Geschmack etwas sehr “laid back”, aber immer noch besser als ein militärisch auf die Minute durchgeplanter Tag. Diesem fehlt nämlich die Möglichkeit, den rechten Moment zu erleben, die Qualität einer Zeitspanne zu genießen, also Kairos zu erleben.
Damit wird Kairos eigensinnig, fast widerständig. Wer sich ihm hingibt, widersetzt sich der Logik der Optimierung. Und vielleicht ist genau das nötig, um wieder atmen zu können.
Ja, genau so etwas ist meiner Meinung nach notwendig. Michael schreibt selbst, dass eine “geplante Spontanität” nicht funktionieren wird. All diese “creative slots” oder “Ideenzeiten” in Terminkalendern sind IMHO vergebene LiebesLebensmühe. Niemand ist auf Kommando “innovativ”, darüber habe ich an dieser Stelle geschrieben und die beste Möglichkeit, Innovationen abzuwürgen, ist die Einführung eines “Innovationsprozesses”. 😱😝
Interessanterweise schreibt Michael gegen Ende seines Blogposts selbst: “Konkret bedeutet das für mich: Ich halte mir einen Morgen pro Woche bewusst frei. Nicht, um Kairos zu erzwingen, sondern um ihm eine Chance zu geben. Meist geschieht dann nichts Besonderes.” – also doch wieder geplante Zeit für ungeplante Qualität? 😉 Nun ja, ich drücke ihm die Daumen und verstehe den Ansatz.
Für mich persönlich gibt es solche reservierten Blöcke nicht in meinem Terminkalender. Ich versuche etwas, das in der Praxis deutlich schwerer ist, mit dem ich aber wesentlich bessere Erfahrungen mache. Ich “puffere” meinen Tag. Das bedeutet, wenn sich Kairos meldet und es dauert eine kleine Weile, dann ist das so. Und ich freue mich über solche “Unterbrechungen”, sind sie es doch, die wie Michael schreibt “nachhallen” und Wirkung zeigen, Gedanken anstoßen.
Dazu gehört es meiner Meinung auch (und um neben den Griechen auch die Römer mit in den Blogpost zu wuchten 😉), zwischen “Nichtstun” und “Müßiggang” zu unterscheiden. “Müßiggang”, das was die Römer als Otium bezeichneten, ist etwas völlig anderes.
Ich war heute Nachmittag mit der Vespa unterwegs durch Niederbayern, eine Tour von Landshut über Straubing, Deggendorf und wieder zurück nach Landshut. Beim Tanken kurz vor der Donaufähre in Mariaposching habe ich einen anderen Vespafahrer in meinem Alter getroffen, dessen Gefährt allerdings ebenfalls in unserem Alter war und keine moderne Vespa wie “il Vespone” 😎
Wir kamen ins Gespräch und ich habe in dieser Viertelstunde viel gelernt, wir haben Ideen und Erfahrungen ausgetauscht und niemals hätte ich damit gerechnet, an einer Automatentankstelle in der Weite Niederbayerns eine anregende Unterhaltung zu führen, die von der Vespa über Schifffahrt bis zu Altershobbies reicht. Ich hatte ja Zeit, weil ich keine für das Gespräch verplant hatte. “Das Leben füllen, nicht den Stundenplan”, das ist es.
Um solche Gelegenheiten wahrzunehmen, ist eine entsprechende Lebenssituation nötig. Mir ist vollkommen klar, dass dies für Arbeitstage abseits eines nationalen Feiertags eine sehr privilegierte Situation ist.
Ob Kairos-Momente überhaupt entstehen können, hängt massgeblich von den Strukturen ab, in denen wir leben. Meeting-Kulturen, Pausenregelungen, Erwartungen an ständige Erreichbarkeit – all das entscheidet, ob Räume für Präsenz bleiben oder ob wir nur noch reagieren.
– aus Michaels Blogpost
Je höher der Grad der “Fremdbestimmung”, umso schwieriger wird es für Kairos, zum Zug zu kommen. Andererseits sind diese Momente oft entscheidend für Verbesserungen, Durchbrüche, Ideen.
Dennoch werde ich weiter versuchen, Puffer zu haben, für Lücken, Otium, Kairos oder wie auch immer man diese wunderbaren Momente nennt, in denen Du stehenbleibst, einfach zwei Minuten versunken und staunend die Welt betrachtest und danach mit einem Grinsen auf dem Gesicht weitermachst.
Lizenz für diesen Post CC-BY-SA 4.0